Zusammenhang zwischen Arbeitsgedächtnis, Lernerfolg und Schach – der Weg zu mehr Lernerfolg

Mit Schach das Arbeitsgedächtnis bei Schulkindern verbessern – eine zweijährige Interventionsstudie

Originaltitel: „Malleability of Working Memory Through Chess in Schoolchildren—A Two-Year Intervention Study“
Veröffentlichung: 2020
Autoren: Ebenezer Joseph, Veena Easvaradoss, Suneera Abraham, & Sweta Vaddad

Lernerfolg in der Schule wünschen sich Kinder, Eltern und Pädagogen. Die Kinder bringen unterschiedliche Voraussetzungen und Fähigkeiten mit. In den letzten Jahren ist die Wissenschaft in neue Bereiche vorgedrungen, um die Voraussetzungen für den Lernerfolg zu bestimmen und Möglichkeiten zu finden, die Kinder auf die Erfolgsspur zu bringen. „Für das Lernen und die Ausbildung ist es wichtig, die Grundprinzipien der kognitiven Entwicklung und der kognitiven Psychologie zu berücksichtigen und die Materialien an die Fähigkeiten des Arbeitsgedächtnisses des Lernenden anzupassen.“(Cowan, 2014). Schön wäre es, wenn man die Kinder ohne Drill und Druck auf ein höheres Niveau hieven kann. Jüngste Forschungsergebnisse machen Hoffnung, wobei auch das Schachspiel mit all seinen Besonderheiten in den Blickpunkt rückt. Gleichzeitig bestätigt die hier vorgestellte Studie die wertvolle Arbeit der Lehrer, die Schach unterrichten und der vielen, meist ehrenamtlichen Schachtrainer in Deutschland.

Zum Zusammenhang zwischen Schachtraining und schulischen Leistungen bzw. Schachtraining und IQ wurde schon viel geforscht und geschrieben. Hingegen blieb die Wirkung von Schach auf den menschlichen Arbeitsspeicher – das menschliche Arbeitsgedächtnis – bisher eher unerforscht. Indische Wissenschaftler (Joseph, Easvaradoss, Abraham & Vaddadi, 2020) stellten kürzlich die Ergebnisse ihrer 2-jährigen Interventionsstudie „Malleability of Working Memory Through Chess in Schoolchildren—A Two-Year Intervention Study“ vor. Die lange Dauer der Studie und die hohe Stichprobe (178 Kinder, davon 88 Kinder in der Gruppe mit Schachtraining und 90 Kinder in der Kontrollgruppe ohne Schachtraining) lassen fundierte Rückschlüsse zu.

Das Arbeitsgedächtnis (working memory) speichert kurzzeitig Informationen, verarbeitet Informationen und ist an der Bewältigung komplexer Aufgaben beteiligt. Aktuelle Forschungsarbeiten zeigen Zusammenhänge zwischen Arbeitsgedächtnis und vielen kognitiven Fähigkeiten:

  • Spracherwerb (Engel de Abreu, Gathercole, & Martin, 2011)
  • Lesefähigkeit (Stevenson, Bergwerff, Heisera, & Resinga, 2014)
  • Rechenfähigkeit (Stevenson, Bergwerff, Heisera, & Resinga, 2014)
  • Leseverständnis (Seigneuric, Ehrlich, Oakhill, & Yuill, 2000)

Das Arbeitsgedächtnis eignet sich auch sehr gut als Prädiktor für schulische Leistungen, wie in o.g. und anderen Arbeiten inzwischen nachgewiesen wurde. Die Beurteilung des Arbeitsgedächtnisses ist eine gute Möglichkeit, Kinder zu identifizieren, bei denen ein hohes Risiko besteht, eher schlechte Lernergebnisse zu erreichen (Gathercole & Alloway, 2008).

Die Autoren Joseph, Easvaradoss, Abraham & Vaddadi der hier vorgestellten Interventionsstudie legen anschaulich dar, wie Schach das Arbeitsgedächtnis fordert und fördert: Während des Schachspielens verarbeitet das Kind enorme Informationsmengen, dabei greift es auf das Langzeitgedächtnis und die vor ihm liegenden Informationen zu. Das Kind verwendet unterschiedliche mentale Techniken:

  • Visualisieren (Züge vorausdenken und die sich ergebende Stellung geistig vors Auge führen)
  • Erinnern an bekannte Schachaufgaben, Partiestellungen, Vorgehensweisen und
  • Abgleichen und Vergleichen mit dem laufenden Spiel

In deren Ergebnis wird die Schachstellung auf dem Schachbrett bewertet, die zur Verfügung stehenden Optionen werden untereinander abgewogen, die zur Wahl stehenden Züge werden beurteilt, um die beste Wahl in der jeweiligen Stellung auf dem Schachbrett zu treffen.

Für die Studie wurde das Arbeitsgedächtnis mit Hilfe der WISC-IV (Wechsler-Intelligenzskala für Kinder – Vierte Auflage, 2012) gemessen.* Um eine genaue Bewertung zu gewährleisten, wurde eine indische Ausgabe der WISC-IV verwendet. Der Test lieferte Subtest- und zusammengesetzte Ergebnisse, die das intellektuelle Funktionieren in bestimmten kognitiven Bereichen darstellten, sowie ein zusammengesetztes Ergebnis, das die allgemeine intellektuelle Fähigkeit darstellte.

Die Werte des Digit Span Subtests und des Letter Number Sequencing Subtests bilden den Arbeitsgedächtnisindex. Die Subtests sind:

  • Digit Span (primär, FSIQ) – Kinder hören mündlich Zahlenfolgen und wiederholen sie wie gehört, in umgekehrter Reihenfolge und in aufsteigender Reihenfolge.
  • Letter Number Sequencing – Buchstaben-Zahlen-Sequenzierung (sekundär) – Kinder erhalten eine Reihe von Zahlen und Buchstaben und werden gebeten, diese dem Prüfer in einer vorgegebenen Reihenfolge zur Verfügung zu stellen.*

Diese Subtests erlauben unter anderem Rückschlüsse auf das auditive Kurzzeitgedächtnis, die Aufmerksamkeit, Konzentrationsfähigkeit, Sequenzierung, kognitive Flexibilität und visuell-räumliche Bildgebung.

Die Interventionsstudie befasst sich mit der Frage, inwieweit Maßnahmen einen Einfluss haben oder den Verlauf beeinflussen. Die unabhängige Variable ist im vorliegenden Fall das Schachtrainingsprogramm und die abhängige Variable das Arbeitsgedächtnis des Kindes. Es gibt eine Behandlungsgruppe (Gruppe mit Schachtraining) und eine Kontrollgruppe (Gruppe ohne Schachtraining).

Die Schachintervention war das regelmäßig stattfindende Schachtraining, eine Stunde pro Woche über die Zeitdauer von 2 Jahren. Die Kinder wurden entsprechend ihres Alters, Klasse und Spielstärke einer Gruppe zugeordnet. Um sicherzustellen, dass die Kinder immer in der richtigen Gruppe waren, wurden regelmäßig Bewertungen vorgenommen. Das Schachtraining orientierte sich an dem Niveau der Gruppe und der Kinder. Beim Schachtraining setzte man auf das patentierte Schachtrainingsprogramm (Joseph, 2008). In Deutschland kann man auf deutschsprachige Schachprogramme wie  Schach für Kids, Brackeler Schachlehrgang, Stappenmethode, Fritz & Fertig, u.a.** zurückgreifen. Im Schachtraining setzt man auf Erläuterungen am Schach-Demonstrationsbrett, praktisches Üben am eigenen Schachbrett, Übungsaufgaben, Taktikaufgaben, Schachsoftware, Schachturniere. Die Kinder lernten im Schachunterricht die Grundregeln, Schacheröffnungen, Endspiele, spielten herausragende Partien aktueller und früherer Schachmeister nach.

Die Autoren Joseph, Easvaradoss, Abraham & Vaddadi unterstreichen die Bedeutung eines zielgerichteten, fundierten Schachtrainings. Der multisensorische Trainingsansatz, das Lernen mit allen Sinnen, stellt den Lernerfolg und die Fortschritte beim Schachspielen sicher. Die Studie zeigte, dass regelmäßiges Schachtraining die Leistung des Arbeitsgedächtnisses der Kinder in der Schachgruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe signifikant steigerte. Die Autoren sind der Überzeugung, dass systematisches Schachtraining auf der Grundlage eines durchdachten Lehrplanes zu einem bedeutenden Zugewinn des Arbeitsgedächtnisses führt und seine Arbeitsweise optimiert. Positive Ergebnisse würden sich nicht nur in schulischen Leistungen, sondern auch im kognitiven Verhalten (Aufmerksamkeit, Erinnerung, Planen, …) zeigen.  Das mentale Wohlbefinden des Kindes verbessert sich ebenfalls. Die Verbesserung des Arbeitsgedächtnisses mittels Schachtraining sollte laut den Autoren ein wichtiges Ziel für Psychologen, Pädagogen, Schachtrainer und Kognitionswissenschaftler sein.

 

Anmerkungen:

*Erläuterungen zu „WISC-IV (Wechsler-Intelligenzskala für Kinder“, Link zu Wikipedia
**siehe auch Deutsche Schulschachstiftung e.V. Link

Referenzen:

Cowan, N. (2014). Working memory underpins cognitive development, learning and education. Educational Psychology Review, 26(2), 197–223.  Volltext PDF-Datei

Engel de Abreu, P. M. J., Gathercole, S. E., & Martin, R. (2011).Disentangling the relationship between working memory and language: The roles of short-term storage and cognitive control. Learning and Individual Differences, 21(5), 569–574. Volltext PDF-Datei

Gathercole, S. E., & Alloway, T. P. (2008). Working memory and learning: A practical guide for teachers.London: Sage. Link

Joseph, E., Easvaradoss V., Abraham S. & Vaddadi, S. (2020), Malleability of Working Memory Through Chess in Schoolchildren—A Two-Year Intervention Study. https://cognitivesciencesociety.org/  Volltext PDF-Datei

Joseph, E. (2008). IndiaPatent No. L-32958/2009

Seigneuric, A., Ehrlich, M. F., Oakhill, J. V., & Yuill, N. M. (2000). Working memory resources and children’s reading comprehension. Reading and Writing,13(1/2), 81–103 Volltext PDF-Datei

Stevenson, C. E., Bergwerff, C. E., Heisera, W. J., & Resinga, W. C. M. (2014).Working memory and dynamic measures of analogical reasoning as predictors of children’s math andreading achievement. Infant and Child Development,23(1), 51–66. Volltext PDF-Datei